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Douglas Reed

Der grosse Plan der Anonymen

 

Wien 1938

Beim Erseheinen dieses Buches werden genau zehn Jahre seit der Veröffentlichung von "Der Jahrmarkt des Wahnsinns» (Insanity Fair) vergangen sein. Hier ist die Fortsetzung. Die Ereignisse, die sich inzwischen abgespielt haben, mögen jetzt mit den Vorhersagen und Warnungen verglichen werden, die im «Jahrmarkt des Wahnsinns» zu lesen waren. Ist das geschehen, dann mag man die Aussichten für die nächsten zehn Jahre, 1948-1958, abschätzen. Hat die vergiftete Atmosphäre des 20. Jahrhunderts sich nun gereinigt? Meiner Ansicht nach ist die Antwort einfach: nein! Der große Ausscheidungskampf zwischen Freiheit und Sklaverei geht weiter. Aus dem Rauch der dreißiger Jahre sind wir eben erst durch die Feuerprobe der vierziger in den erstickenden Qualm geraten, mit dem die fünfziger Jahre auf uns warten. Die militärischen Siege des Zweiten Weltkrieges haben sich in Wahrheit gegen den hohen Einsatz gerichtet, um dessentwillen dieser Krieg begonnen worden war: die Freiheit. Der Zweite Weltkrieg hat uns große Generäle beschert, aber keine Staatsmänner, sondern nur Politiker, und die Handlungweise dieser Politiker wurde noch stärker als während des Ersten Weltkrieges und der Jahre, die auf ihn folgten, durch überall wirksame, geheime Kreise irregeleitet, die gegenüher der Freiheit und der nationalen Eigenständigkeit feindlich eingestellt waren.

Wenn ich auf den Mann zurückblicke, der vor zehn Jahren in Wien «Jahrmarkt des Wahnsinns» schrieb, bemerke ich gewisse Veränderungen bei mir selbst. Damals geisterte noch die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg und sein unermeßliches Blutbad in mir, und die quälende Vorahnung von einem neuen Gemetzel veranlaßte mich mehr als alles andere, jene Warnung

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zu schreiben; Haß und Abscheu vor den Tyranneien, die ich in Europa sich erheben sah, waren, glaube ich, sekundäre Empfindungen gegenüber dieser alles überwältigenden Besorgnis. Jetzt, zehn Jahre später, finde ich, daß ich die Reihenfolge der Gefahren umkehre. Menschenleben können vernichtet werden - das Leben selber kann nicht vernichtet werden, denn es erneuert sich ewig. Ruinen sind relativ unwichtig, denn Menschenhände können immer wieder aufs neue errichten, was Menschenhände zerstört haben. Jetzt scheint mir die Vernichtung der geistigen Werte das Wichtigste zu sein, was aufgehalten werden muß.

Was ich unter geistigen Werten vor allem verstehe, sind Religion, Patriotismus, Freiheit, Menschenwürde und Ehre. Der Prozeß der Vernichtung dieser Werte begann in den dreißiger Jahren und wurde durch den Zweiten Weltkrieg beschleunigt und erweitert. Sollte er noch weiter andauern, dann scheint mir das sogar eine noch furchtbarere Zukunftsaussicht zu sein als ein «dritter Weltkrieg», von dem ich weit und breit reden höre. Die furchtbarste aller Zukunftsaussichten aber ist, daß solch ein dritter Krieg, wie schon der zweite, im Namen der Freiheit angefangen werden könnte, um dann während seines Verlaufs ganz heimlich in einen Krieg zur endgültigen Ausrottung der Freiheit verwandelt zu werden. Ganz offensichtlich ist der Ablauf dieser Kriege des 20. Jahrhunderts unter die Kontrolle außenstehender Mächte geraten, so daß solche Verwandlungen möglich sind. Wir haben dieses Kunststück jetzt schon zum zweiten Male erlebt.

Wenige Tage bevor «Der Jahrmarkt des Wahnsinns" erschien, wurden die darin ausgesprochenen Warnungen jählings durch den Einmarsch der Deutschen in Oesterreich gerechtfertigt, - ein Ereignis, an das zu glauben die öffentliche Meinung in den dreißiger Jahren sich solange weigerte, bis es eingetroffen war. Meine Glaubwürdigkeit wurde durch dieses Ereignis vermehrt, weil ich es als ganz klar und selbstverständlich vorausgesehen hatte. Und dann begann der Zweite Weltkrieg, obschon die kämpfenden Parteien noch achtzehn Monate mit dem Losschlagen warteten. Heute,

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zehn Jahre später, befinden wir uns in genau demselben Stadium eines unschlüssigen, noch nicht akuten, aber unleugbaren Kriegszustandes. Genau wie damals haben wir heute dieselben Möglichkeiten, einem bewaffneten Konflikt auszuweichen und den Gadarene-Prozess des 20. Jahrhunderts aufzuhalten.

Heute, zehn Jahre später, da ich diese Fortsetzung zum «Jahrmarkt des Wahnsinns» schreibe, ist mir immer noch jene lärmende, angsterfüllte Nacht in Wien in Erinnerung. Ich hatte damals auch einen Abschiedsbesuch bei einem biederen Altpapierhändler zu machen, der mich von den Stapeln gilbender alter Zeitungen befreite, die meine Wohnung verbarrikadierten. Er bewohnte drei große Kellerräume unter einem alten Hause in der Nähe des Stephansdomes. Die drei Keller lagen untereinander und entsprachen in ihrem Rauminhalt einem sehr hohen Hause, das die Erde hinabgebaut war. Unterirdische Gänge führten aus ihnen in die Katakomben der Altstadt. Dort unten in der Dunkelheit lebte er, zwischen Bergen von Säcken, zwischen denen oder auf denen unzählige Katzen umherstrichen oder saßen. Sie waren seine erfahrenen Gehilfen; ohne sie hätten die Ratten schon längst sein ganzes Geschäft aufgefressen; und als wir dort miteinander sprachen, betrachteten uns ihre unergründlichen grünen und bernsteinfarbigen Augen von allen Seiten her.

Dort unten war der Lärm des tobenden Pöbels über unseren Köpfen gedämpft: eine weit entfernte, unheilverkündende Kakophonie, das Leitmotiv des von Wahnsinn erfüllten 20. Jahrhunderts. Dieser Altpapierhändler war ein zivilisierter Mann, und deshalb war ich zu ihm gegangen, um ihm auf Wiedersehen zu sagen. Er nickte zu dem gedämpften Lärm, der von oben her zu hören war. «Hören Sie nur", meinte er, «heute Nazis, morgen Kommunistenen - und allezeit Idioten».

Hätte es mehr von seiner Art gegeben, dann wären die Marats und Lenins und Hitlers auf keinen grünen Zweig gekommen. Ich schüttelte ihm die Hand und machte mich auf den Heimweg durch die Kärntnerstraße. Diese halbe Meile Wegs

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zwischen dem Stephansdom und dem Ring schien mir die Hauptstraße des zivilisierten Europas zu sein, das damals von der Zerstörung bedroht war (und heute beinahe völlig vernichtet ist). Nicht einmal Rom oder London haben in den zweitausend Jahren unserer Geschichte eine solch schier endlose Folge von Einfällen, Belagerungen, Schlachten, Eroberungen, Niederlagen, Tyrannei, Befreiung, Wiederaufbau und christlicher Entwicklung, in der unsere, allen gemeinsame Geschichte liegt, erlebt, wie die Kärntnerstraße in Wien.

In jener Nacht beherrschten Stimme, Antlitz und Lärm des Pöbels die Hauptstraße - Europa -, die ebenso geradewegs nach London wie nach Wiener Neustadt führt. Wie leicht der Pöbel den Leichenfledderern ihre Arbeit gemacht hat! Das Gesicht dieses Pöbels widert mich an. In jedem der davonrasenden Gadarene-Schweine gewahre ich denselben Ausdruck wilder Begeisterung für das seinen Augen dargebotene Hinterteil des vordersten Tieres. Warum woandershin sehen, und soll man nicht immer dem Schwein an der Spitze folgen? In diesen zehn Jahren habe ich das Gesicht des Pöbels näher gesehen, als mir lieb ist.

Heute vor zehn Jahren! Kinder, die in jener Nacht geboren worden sind, sind immer noch Kinder; Jungens, die damals zehn Jahre alt waren, sind immer noch junge Leute; junge Männer von zwanzig Jahren sind immer noch junge Männer: ist das möglich? Es ist fesselnd, zurückzublättern, und 1948 die zehn Jahre, wie sie gewesen sind, mit den zehn Jahren zu vergleichen, die jene Nacht so drohend voraussehen ließ. Nachdem wir diesen Vergleich angestellt und soviel Erfahrung gesammelt haben, um unser Urteil zu fällen, ist es noch fesselnder, eine Betrachtung über die zehn Jahre anzustellen, die jetzt vor uns allen liegen. Dem Verfasser des «Jahrmarkt des Wahnsinns» erscheinen sie verhängnisvoller als die zehn Jahre, die damals in jener Nacht des Jahres 1938 noch vor uns lagen.

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